Roots

 

war die erste Frau, die es in Italien durchsetzte zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Sie hatte damit eine traditionelle Geschlechtsschranke durchbrochen, was ihr, zunächst, nicht nur von der Männergesellschaft übel genommen wurde. Trotzdem konnte sie die Professoren von der Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens und von ihren Fähigkeiten überzeugen und gewann am Ende ihres vierten Jahres an der Universität, nach dem zweiten Jahr ihres Studiums in Medizin und Chirurgie den begehrten Rolli-Preis und das damit verbundene Stipendium. In den letzten zwei Jahren studierte sie Kinderheilkunde am Kinderkrankenhaus und arbeitete zugleich als Hilfs- oder Assistenzärztin am Frauenkrankenhaus San Salvatore al Laterno und am Ospedale Santo Spirito für Männer in Sassia. Am Ambulatorio Infantile, der Ambulanz des Kinderkrankenhauses, arbeitete sie im Beratungszimmer, wo sie Diagnosen stellte und Behandlungen verschrieb, sowie im Notdienst, wo sie im letzten Jahr vor dem Examen und im Jahr darauf auf der Unfallstation bei Operationen assistierte. Sie entwickelte sich zur Expertin für Kleinkinderkrankheiten.

Das Diplom eines Doktors der Medizin und der Chirurgie, das sie ...... erhielt, musste aus der vorgedruckten männlichen Form handschriftlich in die weibliche Form übertragen werden, z.B.: >gli esami sostenuti dal Signor< – in >dalla Signora<.

 

Maria Montessori erfuhr bereits in sehr jungen Jahren die unterschiedlichen Lebensbedingungen. Der Tagelohn eines tüchtigen Arbeiters in einer Turiner Kerzenfabrik entsprach ungefähr 40 Cent, eine Frau bekam etwa ein Drittel davon. Spinnereiarbeiter bekamen etwa 13 Cent am Tag, Frauen bekamen die Hälfte. In den ärmsten Gegenden des Landes arbeiteten Frauen gebückt und bis über die Knöchel im Wasser stehend den ganzen Tag auf den Reisfeldern, Kinder verbrachten einen Zwölfstundentag in den Schwefelbergwerken.

Die junge Dr. Montessori stammte aus der Tradition des 19. Jahrhunderts, die Verantwortung für die Armen lehrte. Sie war so erzogen, dass es ihr oft schwer fiel die Pflichten eines Arztes von denen einer Krankenschwester zu trennen und erfüllte dann beide gleichzeitig.

1897 trat Montessori freiwillig als Assistentin in die Psychiatrische Klinik der Universität Rom ein. Eine ihrer Aufgaben war es die Irrenanstalten zu besuchen. Hier sah sie schwachsinnige Kinder, die man, da sie in der Familie oder Schule untragbar waren, in die Irrenanstalten abschob. Es gab keine andere öffentliche Anstalt für sie. Sie waren da zwischen kriminellen und tobenden Irren und allen Arten menschlichen Elends eingesperrt.

Jahre später berichtete Maria Montessori von einem Erlebnis, das sie in jenem Jahr hatte.

Man hatte sie in einen Raum geführt, in dem eine Gruppe schwachsinniger Kinder wie Gefangene gehalten wurde. Sie bekamen niemanden, außer einander selbst zu sehen und taten nichts. Sie starrten in die Luft, schliefen und aßen das Essen, das die Wächterin brachte. Diese erzählte mit Abscheu, dass die Kinder sich nach dem Essen auf den Boden warfen und nach schmutzigen Brotbrocken grapschten. Sie quetschten sie mit ihren Händen und bewegten sie im Mund herum. Maria Montessori sah sich in dem kahlen, leeren Raum um und ihr ging auf, dass die Kinder nicht nach Brot hungerten sondern nach Erfahrungen. In ihren Umgebung war nichts, was sie berühren oder befühlen konnten. Sie hatten nichts zum Spielen, so griffen sie nach dem einzigen Mittel, das sie von ihrer Langeweile befreien konnte.

Maria Montessori, Wissenschaftlerin und praktische Ärztin, war fasziniert von dem Problem der idiotischen Kinder. Diese schienen ein Bedürfnis zu zeigen, das die mit der Versorgung betrauten Wärterinnen betrauten nicht erkannten oder vermutet hatten.

Man kann nicht wissen, wie diese„schwachsinnigen“ Kinder heute diagnostiziert würden. Vielleicht waren sie nur „Idioten“ weil ihre Sinne niemals angeregt wurden, weil kein Lernprozess stattfinden konnte.

Vergleichbar geht es auch heute Kindern, die zwar im materiellen Luxus aufwachsen, deren Geist und Intelligenz nicht durch Erwartungen und Anforderungen zum Wachsen angeregt werden.

Maria Montessori begann alle Schriften zu geistig behinderten Kindern zu lesen und entdeckte die Werke von Jean-Marc-Gaspard Itard und seinem Schüler Edouard Séguin.

Angesichts ihrer eigenen Beobachtungen sah Maria Montessori im Werk Séguins die Antwort, die sie suchte: >ich hielt dafür, dass die geistige Minderwertigkeit hauptsächlich ein pädagogisches, nicht so sehr ein medizinisches Problem sei<. Man konnte diesen Kindern durch besondere Erziehungsmethoden helfen. In Krankenhäusern würde man sie nicht heilen, es war nötig, sie in Schulen zu bilden.

In diesem Augenblick wandte Maria Montessori ihre Aufmerksamkeit zum erstenmal dem Studium der Erziehungswissenschaften zu. Sie besuchte 1897/98 Pädagogik-Vorlesungen und las alle Hauptwerke der Erziehungstheorie der letzten 200 Jahre. Nach und nach fügten sich viele der Ideen, die sie in diesen Werken fand, zu ihrer eigenen Theorie zusammen.

Im Herbst 1899 übernahm Maria Montessori zusätzlich zu ihrer eigenen, ärztlichen Arbeit im Krankenhaus und in ihrer Praxis, und ihrer Arbeit in der inzwischen gegründeten nationalen Liga für die Erziehung behinderter Kinder, noch eine weitere Aufgabe an. Sie war mittlerweile Spezialistin und anerkannte Autorität auf dem Gebiet: Nervenkrankheiten der Kinder. Nun sollte sie an einer der beiden Lehrerbildungsanstalten für Frauen in Italien Vorlesungen halten. Sie lehrte als Ärztin in einer Lehrerbildungsanstalt und gewann damit zunehmend Vertrautheit mit den Methoden der Pädagogik.

Im Frühjahr eröffnete die Liga in Rom ein mediziniscch-pädagogisches Institut zur Ausbildung von Lehrern für die Betreuung und Erziehung geistig behinderter Kinder, verbunden mit einer Modellschule mit 22 kleinen Schülern. Der Name der Schule: Scuola Magistrale Ortofrenica , Maria Montessori war die von allen anerkannte Direktorin.

Zum Ende des ersten Ausbildungsjahres, nach drei Monaten Schule für die Kinder, überzeugten sich Beamte des Erziehungsministeriums, Mitglieder der Liga, des Stadtrats, der Universität Rom und der Abgeordnetenkammer vom Kenntnisstand bei Studenten und Schülern. Alle waren überrascht und verblüfft über die großartigen Leistungen.
Maria Montessori arbeitete aktiv, sie unterrichtete selbst und leitete die Erzieherinnen an. Dabei experimentierte sie mit den verschiedenen Lehrmethoden und Materialien. Sie probierte alles, was sie in all ihren Studien kennen gelernt hatte und entwickelte neue Ideen. Basis waren die von Itard und Séguin entwickelten Vorrichtungen, die sie aber nach Bedarf veränderte. Auf diese Weise entstanden eine Reihe von Lehrmaterialien, von denen sie sagte; >es wurde in der Hand der Lehrer, die es zu gebrauchen wussten, ein sehr beachtenswertes und wirksames Mittel. Freilich, wo es nichtgehörig gehandhabt wird, kann es die Aufmerksamkeit der Schwachsinnigen nicht anregen<.

Dieses Material und ihre Darbietung wurden später, nachdem sie zur Verwendung für normale Kinder verändert waren zum „Montessori-Material und der Montessori-Methode“

Bei ihren Versuchen war sie sowohl über Itard als auch über Séguin hinausgegangen und hatte eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe zurückgebliebene Kinder lesen und schreiben lernen konnten.

Während alle Welt die Fortschritte der Idioten bewunderte, forschte Maria Montessori nach den Gründen, welche die bedauernswerten Schüler der öffentlichen Schulen auf so niedriger Stufe zurückhielten, dass die Behinderten ihnen in der geistigen Bildung die Stange halten konnten. Sie fand sich auch hier wieder in einem Buch Séguins bestätigt, in dem er 30 Jahre vorher zur gleichen Erkenntnis kam.

1906 war Maria Montessori 36 Jahre alt, beruflich anerkannt, eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin und Akademikerin, weithin bekannt und von den Kollegen in ihren verschiedenen Interessensgebieten hochgeachtet, ebenso von weiten Kreisen der römischen Verwaltung und Gesellschaft.

Rom erlebte, nach einer Zeit mit großen politischen und wirtschaftlichen Problemen, einen Aufschwung, der ein rasches Anwachsen zu einer übervölkerten Großstadt bewirkte. Die Infrastruktur konnte nicht Schritt halten, Notunterkünfte entstanden, physische, psychische und moralische Folgen waren sowohl bei der arbeitenden Bevölkerung, wie auch bei den Menschen, die keine Arbeit fanden vorprogrammiert. Es bildeten sich Elendsviertel, in welchen die Kriminalität extrem anwuchs.

Wohlhabende Bürger waren sich dieser Problematik bewusst und suchten nach Auswegen.

 

Eine Baugesellschaft hatte mehrere Wohnblöcke saniert und wollte diese möglichst lange in gutem Zustand behalten. Die Wohnungen wurden nur an berufstätige Ehepaare vermietet, die in der Regel aber Kinder hatten. Wer sollte diese Kinder beaufsichtigen während die Eltern arbeiteten? Es war also keineswegs ein philanthropischer Ansatz, sondern überwiegend die Angst vor finanziellen Verlusten, der zur Anfrage bei Maria Montessori führte.

Dr. Montessori war daran interessiert, einige ihrer Erziehungsideen an normalen Kindern auszuprobieren – die Direktoren des Konzerns brauchten jemanden zur Beaufsichtigung der Kindertagesstätte, und so schien die Idee ein für beide Teile vorteilhaftes Arrangement zu sein: Frau Montessori sollte alleine die Verantwortung für die Versorgung der Kinder haben und sie dafür den Bankdirektoren vom Hals halten – und sie am Beschmieren der Wände hindern.

Maria Montessoris Freunde konnten sie nicht verstehen, wie sie sich mit einer so unbedeutenden Arbeit wie der einer Lehrerin in einem Elendsviertel abgeben konnte. Für einen Lehrer an der Universität war dies undenkbar, man war der Meinung, sie setze damit das Ansehen der Fakultät und des Ärztestandes herab. Montessori verfolgte trotzdem ihren Weg – vermutlich ahnte sie ihren Erfolg.

Die Baugesellschaft stellte nur das „Kinderzimmer“, aber kein Geld für die sanitäre Einrichtung, für Möbel, Spielzeug und weitere Ausrüstung, oder Nahrungsmittel zur Verfügung. Eine erwachsene, unausgebildete Aufsichtsperson wurde eingestellt, die durch einen Aufschlag auf die Miete von allen Bewohnern gemeinsam bezahlt wurde. Sie hatte ihre Wohnung im gleichen Haus und war dadurch ständig präsent.

Am 6. Januar 1907 wurde im Haus Via die Marsi 58 das erste Kinderhaus für etwa fünfzig bis sechzig verwilderte Kinder im Alter von zwei bis sieben (nach anderen Unterlagen drei bis sechs) Jahren durch eine offizielle Einweihungsfeier eröffnet. Es war am Erscheinungsfest, der Tag, an dem die Ankunft der Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben für das Jesuskind gefeiert wir, in Italien traditionell ein hoher Festtag der Kinder.
Maria Montessori hatte den Einzug der Kinder so beschrieben: sie waren alle gleich gekleidet, in dicken, schweren, blauen Drillich. Sie waren angsterfüllt und da der steife Stoff ihre Bewegungen hindert konnten sie sich kaum bewegen. Man hatte sie angewiesen sich an den Händen zu halten. Das erste, sich widerstrebende Kind wurde gezogen und zog dann alle mit. Alle weinten bitterlich. Die Damen der Gesellschaft bekamen Mitleid und hofften, dass sich alles bald ändern werde.

Maria Montessori war mit vielen Pflichten beschäftigt – Lehre, Forschung, Praxis. Sie schaute im Kinderhaus vorbei sooft sie konnte, manchmal aber nur einmal in der Woche. Sie brachte einen Teil des Lehrmaterials mit, das sie an der Scuola Ortofrenica für die behinderten Kinder entwickelt hatte. >Ich erlegte der Lehrerin keine Beschränkungen auf und auch keine besonderen Pflichten< .. >ich wollte nur die Reaktionen der Kinder studieren<. Veränderungen wurden sichtbar: die mürrischen, interesselosen und in sich zurückgezogenen sowie die rebellischen Kinder zeigten ein bemerkenswertes Interesse an dem didaktischen Material, das sie dem Spielzeug und den Zeichenutensilien vorzogen. Anders, als die zurückgebliebenen Kinder, denen man gut zureden musste, damit sie aufpassten, begannen diese normalen Kinder sofort mit den didaktischen Materialien zu arbeiten und blieben solange dabei, bis die Aufgabe gelungen war. Anschließend wiederholten sie den Vorgang und entwickelten dabei eine ungeheure Konzentrationsfähigkeit. Sie veränderten sich auch in sozialer Hinsicht; sie wurden gesellig und mitteilungsfreudig. Ihre Persönlichkeit entwickelte sich, sie zeigten außerordentliches Verständnis, Aktivität, Lebhaftigkeit und Selbstvertrauen. Es war nicht die Angst vor Strafe oder die Vorfreude auf eine Belohnung, sondern rein die Lust an der Tätigkeit selbst. Sie waren glücklich und fröhlich

In den kommenden Jahren dehnte Maria Montessori die Anwendung ihrer Methode auf ältere Kinder und auf die Kinder der mittleren und wohlhabenden Schichten aus. Sie nahm damit ein soziales und politisches Anliegen unserer Zeit voraus: die frühe Anregung als Grundlage für späteres Lernen, Vorschulerziehung als Ausgleich für Mängel in der frühen Kindheit, integrierender Ausgleich in der Schule für Kinder unterschiedlicher Herkunft.

Mit vierzig Jahren fasste Maria Montessori den Entschluss jegliche andere Arbeit aufzugeben und sich von nun an voll der Bewegung zu widmen, zu der sich ihre Anhänger und Verehrer zusammengeschlossen hatten. Sie führte die Kurse durch, in welchen Lehrerinnen für Kinderhäuser und Montessori-Schulen in allen Kontinenten ausgebildet wurden.

Ab 1916 leitete sie hauptberuflich die internationale Montessori-Bewegung.

 

Die beiden ersten internationalen Kurse hielt sie in Rom ab, Studenten kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, aber auch aus den USA und Kanada, sogar aus Australien, Südafrika, Indien und China.

Sie reiste weltweit um Vorträge zu halten und Ausbildungskurse zu geben. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs hielt sie in Indien fest. Sie nützte die Zeit und konnte so begeistern, dass später sogar Pläne zu einer Montessori-Universität in Madras entstanden. (Der Plan wurde aus politischen Gründen nicht verwirklicht: die Trennung von Indien und Pakistan band alle Kräfte)

Sie gab den Anstoß zu internationalen Kongressen, die, bis heute, in wechselnden Ländern und Kontinenten abgehalten werden. Sie dienen der Vermittlung von Wissen, dem internationalen Austausch von Erfahrung und der Begegnung der „Montessorianer“.

Auch das Nationalsozialistische Regime in Deutschland erkannte die Effektivität dieser neuen Pädagogik, in der die Kinder aus eigenem Antrieb lernen, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung aufbauen, Sensibilität für andere entwickelen und damit zu Vermittlern für den Frieden werden – alles Eigenschaften, die einer Diktatur gefährlich werden. Alle Schulen und Kinderhäuser wurden geschlossen, den Montessori- Lehrern Berufsverbot erteilt. 1933 wurden Montessoris Bücher und ihr Bild in Berlin auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt.

Die letzten Jahre ihres Lebens fühlte sich Maria Montessori als Weltbürgerin, die sich vor allem dem Frieden verpflichtet fühlte. 1949 sprach sie in San Remo über die Notwendigkeit, die wechselseitige Abhängigkeit in der Menschheit anzuerkennen. Dazu ist es unerlässlich, die Kinder in einer Weise zu erziehen, dass die sich ständig verändernde Welt Menschlichkeit hervorbringt. Unter ihren Zuhörern waren Erzieher aus der ganzen Welt, katholische Prälaten, Quäker, Hindus, Moslems und Buddhisten, weltliche Lehrer und Psychologen. Maria Montessori schöpfte Hoffnung aus dem Umstand, dass sie >von einer gemeinsamen Plattform aus sprachen und in Harmonie für eine gemeinsame Sache arbeiteten<.

Sie wurde 1949 für den Friedens-Nobelpreis nominiert, eine Auszeichnung, die sie 1950 und 1951 noch einmal erleben durfte.

Ihr Leben endete am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee, Niederlande – ihre Gedanken und Ideen, ihre Haltung und Achtung vor dem Mitmenschen leben weiter in unseren Kindern, die die Chance haben mit dieser Pädagogik aufwachsen zu dürfen..

 

Die meisten Informationen sind entnommen aus:

Rita Kramer
Maria Montessori Leben und Werk einer großen Frau.
verlegt bei Kindler, 1977
ISBN 3-463-00695-2